Systemsprenger

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Als Systemsprenger werden Klienten in Pädagogik und Psychiatrie bezeichnet, für die es noch keine geeigneten sowie erfolgreich nachgewiesenen Hilfemaßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe gibt. Sie wechseln häufig die Hilfen und die Hilfeorte und erfahren dadurch erneute Bindungsabbrüche. Ein „Ankommen“ in weiterfolgende Maßnahmen erweist sich daher als erschwert. Systemsprenger sind Personen, die aufgrund ihres besonderen Problemverhaltens nur schwer in Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe respektive der Behindertenhilfe integriert werden können. Infolgedessen werden sie entweder von Einrichtung zu Einrichtung durchgereicht oder sie ziehen sich ganz zurück, fallen aus dem sozialen Netz, werden obdachlos oder straffällig.

Definition[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Ausdruck „Systemsprenger“ ist als Fachbegriff unklar definiert und umstritten. Er spiegelt die Hilflosigkeit von Einrichtungen, vor allem der Jugendhilfe, der Schule, der Psychiatrie, der Behindertenhilfe sowie der Justiz wider. Auch andere Begriffe wie „die Schwierigsten“ oder „Hoch-Risiko-Klientel“ sind inhaltlich unbestimmte Versuche, ein komplexes Problem in einem Wort zu fassen.

Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf, schrieb 2017, der Begriff „Systemsprenger“ könne durchaus verwendet werden, wenn klar benannt wird, dass es ein komplexes Problem der Sozialsysteme sei, nicht um eine Persönlichkeitseigenschaft.[1]

Baumann schlug 2014 folgende Definition vor:[2]

„Hoch-Risiko-Klientel, welches sich in einer durch Brüche geprägten negativen Interaktionsspirale mit dem Hilfesystem, den Bildungsinstitutionen und der Gesellschaft befindet und diese durch als schwierig wahrgenommene Verhaltensweisen aktiv mitgestaltet.“

Menno Baumann (2014)

Personeller Ansatz[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Vor allem Personen, die in Heimen aufgewachsen sind oder sonst in ihrer Kindheit von Deprivation, Hospitalismus oder Gewalterfahrungen betroffen waren, drohen später zum Systemsprenger zu werden. Schätzungen zufolge sind fünf Prozent aller Bewohner stationärer Einrichtungen Systemsprenger. Bei den Krankheitsbildern liegen Störungen des schizophrenen Formenkreises und Persönlichkeitsstörungen mit jeweils rund 40 Prozent an erster Stelle.[3]

Systemsprenger werden häufig charakterisiert durch

  • eine kritische Sonderstellung unter den Betreuten aufgrund starker Verhaltensauffälligkeiten,
  • Stören der Arbeit in Gruppen und unkooperatives Verhalten,
  • Sprengen der Rahmenbedingungen,
  • überzufälliges Wechseln der Einrichtungen sowie durch
  • häufige stationäre Behandlungen.[3]

Kontextueller Ansatz[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Erkenntnisse aus der Forschung lassen Systemsprenger als eine heterogene Personengruppe erkennen. Ein kontextueller Ansatz geht davon aus, dass sie aufgrund eines individuellen und komplexen Hilfebedarfs nicht in der beabsichtigten Weise von den bestehenden Versorgungssystemen profitieren und dadurch bedroht sind, geschlossen untergebracht zu werden oder anderweitig aus dem Versorgungssystem herauszufallen. In der deutschsprachigen Forschung hat sich der Fokus deshalb von den personenbezogenen auf die kontextuellen und strukturellen Faktoren verschoben. Demnach entstehen Systemsprenger aus methodischer, struktureller und ethischer Überforderung des Hilfesystems.[4] Baumann weist auch besonders darauf hin, dass es die Dynamiken des Hilfesystems, des Gesundheitssystems und des Schulsystems sind, und die Art, wie diese Systeme miteinander interagieren, die dazu führen, dass die Hilfe nicht auf den Adressaten eingestellt werden können, sondern formalen Eigenlogiken der jeweiligen Institutionen und Rechtsformen folgen, in die nun einmal nicht jeder junge Mensch hineinpasst. Insofern ist Baumann folgend „Systemsprenger sein“ auch eine Kompetenz, um unreflektierte Stereotypien der Struktur von Pädagogik und Psychiatrie aufzuzeigen. Die Energie, mit der diese Menschen uns einen Spiegel vorhalten, wird dabei als wichtiger erachtet als das individuelle Problem der vermeintlichen Störer.[5] Im kontextuellen Ansatz bleibt also die Definitionsmacht der Hilfesysteme gegenüber ihrer Klientel ein wesentlich zu reflektierender Teil des Phänomenbereiches „Systemsprenger“.

Perspektiven[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Immer wieder gab es in den letzten Jahren intensive Bemühungen, so genannte „passgenaue Hilfen“ zu installieren. Für Kinder und Jugendliche, die viele Abbrucherfahrungen hinter sich haben, werden mittlerweile sehr differenzierte Hilfeformen vorgehalten, die zwischen niedrigschwelligen Betreuungsangeboten bis zu Zwangsmaßnahmen reichen. In der Jugendhilfe stehen z. B. folgende Betreuungsformen bereit:

  • Individualpädagogische Maßnahmen (im In- und Ausland)
  • Intensivgruppen (mit hohem Betreuungsschlüssel und geringer Platzzahl)
  • Geschlossene Unterbringung
  • Betreuung im trägereigenen Wohnraum
  • Therapeutische Wohngruppen
  • Streetwork und Notschlafstellen
  • Hoch individualisierte Sonderleistungen im Fallverbund

Dabei unterscheiden sich die einzelnen Betreuungsformen nicht nur durch ihre Struktur, sondern auch inhaltlich sehr stark voneinander. Häufig entscheidet nicht der äußere Rahmen über die Passung der Hilfe, sondern ob es inhaltlich und auf der Bindungsebene gelingt, mit den Betroffenen in Kontakt zu geraten. Evaluationsstudien haben dabei in den letzten Jahren gezeigt, dass diese Hilfeformen durchaus in der Lage sind, deutlich positive Effekte zu erzielen. Aber in allen diesen Hilfen gibt es auch Abbrüche und weitere Erfahrungen des Scheiterns, was dann die Dynamik des Scheiterns zusätzlich verstärkt.[6]

Baumann zufolge besteht dabei der größte Forschungsbedarf in den nächsten Jahren einerseits im Bereich der verstehenden pädagogischen Diagnostik, um sich der Dynamik scheiternder Hilfeverläufe individuell anzunähern. Andererseits sollten pädagogische Fachkräfte so begleitet, unterstützt und supervidiert werden können, dass sie die belastende Arbeit weiterhin professionell und zugewandt leisten können.[1][2][5] Das pädagogisch-methodische Rüstzeug, um mit Systemsprengern zu arbeiten, sei in Jugendhilfe und Psychiatrie zweifelsfrei vorhanden.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Menno Baumann: Kinder, die Systeme sprengen. Wenn Jugendliche und Erziehungshilfe aneinander scheitern. 2. Auflage. Band 1. Schneider Hohengehren, Baltmannsweiler 2012, ISBN 978-3-8340-1074-2.
  • Menno Baumann, Tijs Bolz, Viviane Albers: „Systemsprenger“ in der Schule. Auf massiv störende Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern reagieren. Julius Beltz Verlag, Weinheim 2020, ISBN 978-3-407-25879-3, urn:nbn:de:101:1-2017120543728.
  • Tijs Bolz, Viviane Albers, Menno Baumann: Professionelle Beziehungsgestaltung in der Arbeit mit „Systemsprengern“. In: unsere jugend. Band 71, Nr. 7+8, 2019, S. 297–304, doi:10.2378/uj2019.art49d.
  • Karsten Giertz, Thomas Gervink: „Systemsprenger“ oder eher PatientInnen mit einem individuellen und komplexen Hilfebedarf? In: Psychotherapie Forum. Band 22, Nr. 4, Dezember 2017, S. 105–112, doi:10.1007/s00729-017-0104-0.
  • Birgit Herz (Hrsg.): Lernen für Grenzgänger. Bildung für Jugendliche in der Straßenszene (= Studien zur Jugendhilfe. Band 3). Waxmann, Münster, New York, München, Berlin 2006, ISBN 3-8309-1615-9, S. 115 ff.

Filme[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b Menno Baumann: Kinder, die Systeme sprengen? Die Dynamik scheiternder Hilfeverläufe und (ver-)störender Verhaltensweisen. In: unsere jugend. Band 70, Nr. 1, 21. Dezember 2017, ISSN 0342-5258, S. 2, doi:10.2378/uj2018.art02d (reinhardt-journals.de [abgerufen am 14. Februar 2019]).
  2. a b M. Baumann: Jugendliche Systemsprenger – zwischen Jugendhilfe und Justiz (und Psychiatrie). In: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe. Band 25, Nr. 2/2014, 2014, ISSN 1612-1864, S. 162–167.
  3. a b Harald J. Freyberger et al.: Am Rande sozialpsychiatrischer Versorgungsstrukturen – eine Untersuchung zur „Systemsprengerproblematik“ in Mecklenburg-Vorpommern. In: Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie. Band 106, Nr. 13, Februar 2008, S. 106–113, doi:10.1055/s-2007-996172.
  4. Karsten Giertz, Thomas Gervink: „Systemsprenger“ oder eher PatientInnen mit einem individuellen und komplexen Hilfebedarf? In: Psychotherapie Forum. Band 22, Nr. 4, Dezember 2017, S. 105–112, doi:10.1007/s00729-017-0104-0.
  5. a b Baumann, M. (i.Vorb.).: Kinder, die Systeme sprengen Band 2 – Impulse, Zugangswege und hilfreiche Settingbedingungen für Schule und Jugendhilfe. Scheider Verlag Hohengehrden, Baltmannsweiler.
  6. Neue Impulse in der Intensivpädagogik. In: M. Baumann (Hrsg.): Theorie und Praxis der Jugendhilfe. Band 11. EREV: SchöneWorth Verlag, Hannover 2015.