Tübinger Schule

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Als Tübinger Schule wird eine wissenschaftliche Richtung evangelischer und katholischer Theologen bezeichnet, die im 19. Jahrhundert an der Universität Tübingen Grundlagen für die historisch-kritische Methode der Bibelforschung entwickelten.

Evangelische und katholische Tübinger Schule[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Tübinger Schule entstand um 1826 im Umkreis des evangelischen Theologen Ferdinand Christian Baur, der 1826 bis 1860 als Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte, 1841 und 1842 als Rektor der Universität Tübingen wirkte. Baur und seine Schüler erarbeiteten die Grundlagen für die historisch-kritischen Methode der Bibelforschung des 19. Jahrhunderts. Zu Baurs Schülern gehörten unter anderem: David Friedrich Strauß, Johann Tobias Beck, Karl Reinhold von Köstlin und Baurs Schüler Eduard Zeller. Beck lehnte allerdings Baurs spekulative Sichtweise ab und begründete eine stärker biblisch fundierte Schule, während Albert Schwegler 1841 nach Konflikten mit württembergischen Kirchenbehörden von der Theologie zur Philologie wechselte.

Katholische Theologen mit ähnlicher Forschungsrichtung wie Baur waren Johann Sebastian von Drey (1777–1853), Johann Adam Möhler (1796–1838), Johann Baptist von Hirscher (1788–1865) sowie Franz Anton Staudenmaier (1800–1856) und Johannes von Kuhn (1806–1887). Sie haben sich kontrovers mit Baur und seinen Schülern auseinandergesetzt, weshalb die katholische Tübinger Schule deutlich von der evangelischen zu unterscheiden ist. Angeregt durch die Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels, befasste sie sich auch mit dem Themenkreis göttliche Offenbarung vs. menschliche Vernunft. Dabei bemühte sie sich um die Einheit von historischer und spekulativer Theologie.

Die evangelische Tübinger Schule stand in einer jahrelangen, heftigen Auseinandersetzung mit ihrem Tübinger Kollegen Heinrich Ewald. Der um einen Ausgleich zwischen orthodoxer und liberaler Theologie bemühte Albrecht Ritschl trennte sich letztlich von der Tübinger Schule.

Um 1860 griff der anglikanische Neutestamentler und Philologe Brooke Foss Westcott die Methoden Baurs auf und entwickelte eine historisch verschärfte kritische Methode der Bibelforschung.

Drei Tübinger Schulen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Manche Historiker unterscheiden sogar drei Tübinger Schulen:

  1. Ältere Tübinger Schule (evangelisch), begründet bereits von Gottlob Christian Storr (1746–1805). Sie vertrat im Wesentlichen den Kant’schen Supranaturalismus, wonach die göttliche Offenbarung über aller menschlichen Vernunft steht. Daher hat auch in der Forschung die formale Autorität der Bibel ihren Platz.
  2. Tübinger Schule (katholisch), schon um 1819 von J.S. Drey begründet, von Möhler und Hirscher weiterentwickelt.
  3. Jüngere Tübinger Schule (evangelisch), um 1826 durch F.C. Baur begründet. Im Gegensatz zu (1) tritt sie für eine von dogmatischen Voraussetzungen freie historisch-kritische Theologie ein.

Im 20. Jahrhundert finden die letztgenannten Schulen auch zahlreiche Vertreter unter Naturwissenschaftlern und Philosophen, etwa Carl Friedrich von Weizsäcker.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Matthias Adrian/Rainer Kampling: Freiheit in Grenzen? Forschung und Konflikte neutestamentlicher Exegeten der „Katholischen Tübinger Schule“ im 19. Jahrhundert (= Contubernium. Band 89). Steiner, Tübingen 2021, ISBN 978-3-515-12892-6.
  • Bauspiess, Martin/Landmesser, Christof/Lincicum, David (Hrsgg.): Ferdinand Christian Baur und die Geschichte des frühen Christentums. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament - 333. Tübingen, Mohr Siebeck 2014, 2014. ISBN 9783161508097.
  • Michael Kessler, Ottmar Fuchs (Hrsg.): Theologie als Instanz der Moderne. Beiträge und Studien zu Johann Sebastian Drey und zur Katholischen Tübinger Schule (Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie). 2005, ISBN 978-3-7720-8075-3.
  • Matthias Blum/Rainer Kampling: Zwischen katholischer Aufklärung und Ultramontanismus. Neutestamentliche Exegeten der „Katholischen Tübinger Schule“ im 19. Jahrhundert und ihre Bedeutung für die katholische Bibelwissenschaft (= Contubernium Band 79). Steiner, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-515-10263-6.
  • Stefan Warthmann: Die Katholische Tübinger Schule. Zur Geschichte ihrer Wahrnehmung (= Contubernium. Band 75). Steiner, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-515-09856-4
  • Tübinger Schule in Meyers Konversationslexikon
  • Josef Rupert Geiselmann: Die katholische Tübinger Schule: ihre theologische Eigenart. Herder, 1964.
  • Josef Mader: Offenbarung als Selbstoffenbarung Gottes: Hegels Religionsverständnis als Anstoß für ein neues Offenbarungsverständnis in der katholischen Theologie des 19. Jahrhunderts. Lit, 2000, ISBN 978-3-8258-4309-0.
  • Gerhard Müller: Theologische Realenzyklopädie. Band 35, Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2003, ISBN 3-11-017781-1, S. 676.
  • Ulrich Köpf (Hrsg.): Historisch-kritische Geschichtsbetrachtung: Ferdinand Christian Baur und seine Schüler. Thorbecke, Sigmaringen 1994, ISBN 978-3-7995-3234-1 (Online-Vorschau).