Karachanidische Literatur

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Die karachanidische Literatur[1] ist die Literatur, die ausgehend vom Reich der Karachaniden im 11. und 12. Jahrhundert in Zentralasien in einer dem Alttürkischen nahe stehenden Sprache entstanden ist. Die türkische Sprache dieser Literaturzeugnisse wird als Karachanidisch bezeichnet. Als die damalige gemeinsame Schriftsprache der islamisch-türkischen Welt hat das Karachanidische eine Vielzahl von Dokumenten hinterlassen und die gemeinsame Schriftsprache späterer Turksprachen nachhaltig beeinflusst. Die erhaltenen Sprachdenkmäler sind sehr wichtig in Bezug auf die türkische Sprach- und Literaturgeschichte, da die Werke aus dieser Zeit Auskunft über den historischen Entwicklungsprozess des Türkischen sowie über den seinerzeit erfolgten türkischen Kulturwandel hin zum Islam geben.

Karte des Karachanidenstaates in den Grenzen von 1006 (nach: The Historical Atlas of China von Tan Qixiang) – mit den Orten (alphabetisch): Balasagun, Barchuk, Barskoon, Bukhara, Denau (Chekyana), Ferghana, Ichiwooq, Illiq, Ishtihan, Jizzax, Keriya, Kheti, Khotan, Khujand, Nakshab (Qarshi), Nurota (Nur), Osh, Otrar, Pugnahi, Qarqan, Samarkand, Sayram (Baishui), Shahrisabz, Shule, Talas, Tashkent (Chachi), Termiz, Uzgen, Yarkant; umgeben von den Staaten bzw. Gebieten (im Uhrzeigersinn) der Seldschuken, Kimek, Liao, Xizhou-Uiguren (Xizhou Huigu), Gelbkopf-Uiguren (Huangtou Huihe), Chiang-Tung, Guge, Maryul, Ladakh, Pursapura, Ghaznawiden und nicht unmittelbar angrenzend im Südwesten: Kaschmir und Zanskar. (Das Khanat der Karachaniden war seit ungefähr den 1040er Jahren in ein Östliches Khanat und ein Westliches Khanat gespalten.)

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ab dem 11. Jahrhundert begannen im Karachanidenstaat Autoren mit der schriftlichen Wiedergabe der zuvor nur mündlich tradierten Literatur in der dort verwendeten türkischen Sprache. Die karachanidische Sprache des 11. und 12. Jahrhunderts ist eine Frühstufe der islamischen mitteltürkischen Literatursprache Mittelasiens. Die Islamisierung der Karachaniden und ihrer türkischen Untertanen spielte eine große Rolle bei der kulturellen Entwicklung der türkischen Kultur. Im späten 10. und frühen 11. Jahrhundert wurden zum ersten Mal in der Geschichte der Turkvölker die Tafsīre, die Kommentare zum Koran, in die türkische Sprache übersetzt.[2] Zu dieser Zeit erschienen in Zentralasien wichtige literarische Werke in türkischer Sprache, an erster Stelle der Fürstenspiegel Das glückliche Wissen[3] (Kutadgu bilig) von Yusuf Balasaguni aus dem Jahr 1069[4] (das erste schriftliche osttürkische Werk gilt als erstes islamisches Literaturwerk auf Türkisch, es ist in der poetischen Form masnawī verfasst, einer Versform der iranischen Literatur), der (ihm zugeschriebene[5]) Diwan von Ahmed Yesevi (einem bedeutenden Vertreter der islamischen Mystik auf den die sufistische Lehre des Yesevi-Sufiordens zurückgeht), Einweihung in die Wahrheit von Ahmad Yunaki (worin Fragen der Ethik und der Religion behandelt werden). Der Gelehrte Mahmud al-Kaschgari aus dem 11. Jahrhundert legte den Grundstein für die türkische Linguistik. Er führte die Namen vieler Turkstämme Zentralasiens auf. Sein Wörterbuch der türkischen Dialekte (Dīwān lughāt at-turk) wurde von ihm in den Jahren 1072–1074 zusammengestellt. Darin präsentierte er die wichtigsten Gattungen der türkischen Folklore, rituelle und lyrische Lieder, Auszüge aus heroischen Epen, historische Erzählungen und Legenden (über den Feldzug Alexanders des Großen in der Region der Tschigil-Türken), mehr als 400 Sprichwörter, Redensarten und mündliche Aussprüche.

Al-Kāschgharīs nach Osten ausgerichtete Weltkarte aus seinem Dīwān lughāt at-turk zeigt rund um die karachanidische Residenzstadt Balasagun als Mittelpunkt eine Auswahl von Ländern, Städten und Völkern, Bergen, Flüssen und Seen der ihm bekannten, von einem Ozean kreisförmig umschlossenen Welt, wobei „das Gebiet der beiden Irak“ (arabisch ارض العراقين, DMG Arḍ al-ʿIrāqain) im unteren Bereich oberhalb des Hedschas eingezeichnet ist.
Yusuf Balasaguni (11. Jhd.) auf einer kirgisischen 1000-Som-Banknote

Aus einigen literarischen Werken ist ersichtlich, dass die morphologischen Merkmale der arabischen und persischen Literatur verwendet werden.

Das wissenschaftliche und literarische Zentrum von Mawara’annahr wurde am Hof der Karachaniden in Samarkand gegründet. Quellen über die Geschichte des Karachanidenstaates sind größtenteils nicht erhalten geblieben. Es sind nur einige Titel dieser historischen Werke bekannt. Die Informationen darüber haben uns nur in den Werken arabischer und persischer Autoren erreicht, die außerhalb des Khanats schrieben. Das Werk Tarich-i Kaschgar[6] von einem der Historiker der Karachanidenzeit ist nur in kleinen Fragmenten von Dschamal Karschi (13. Jahrhundert) bekannt.

Mazār-Grabmal des Satoq Bugra Khan in Artux

Einer der berühmtesten Gelehrten war der Historiker Madschid ad-Din as-Surchakati, der in Samarkand eine Geschichte Turkestans verfasste, in der die Geschichte der Karachaniden-Dynastie dargelegt wurde.[7]

Zitat[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Dem Autor Alimschan Tiliwaldi zufolge stellt die karachanidische Literatur

«[В принципе караханидская литература] представляет промежуточную форму в эволюции классической тюркской литературы исламского содержания. Это подтверждается наличием в литературе караханидов синкретических форм словесности (жанровых, стихотворных), идейного эклектизма (философии аскетизма, о непостоянстве мира и неизбежности смерти, об идеальном городе и т.п.), разнообразных поэтических стилей (арузная поэтика, анаграммическая поэзия и силлабические размеры), а также единства музыки и песенного творчества в поэзии»

„[...] im Prinzip eine Zwischenform in der Entwicklung der klassischen türkischen Literatur mit islamischem Inhalt dar. Dies wird durch das Vorhandensein synkretistischer Literaturformen (genrebasiert, versbasiert), ideologischen Eklektizismus (Philosophie der Askese, über die Unbeständigkeit der Welt und die Unvermeidlichkeit des Todes, über eine Idealstadt usw.), verschiedene poetische Stile (aruz-Prosodie, anagrammatische Poesie und syllabische Maße) und die Einheit von Musik und Liedtexten in der Poesie bestätigt.“

A. Tilivaldi: in dt. Übers.[8]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Alessio Bombaci: La letteratura turca – con un profilo della letteratura mongola. Nuovo edizione aggiornata. Sansoni-Accademia, Florenz/Mailand 1969 (Parte terza: La letteratura turca islamica d’Asia centrale; Capitolo settimo: Dagli inizi alla invasione mongola (XI–XIII secolo)
  • W. Barthold: Turkestan down to the Mongol Invasion. Reprint 2007 (Digitalisat der Ausgabe 1928)
  • Jean Deny et al. (Hrsg.): Philologiae Turcicae Fundamenta: Tomus Primus [Turksprachen]. Steiner, Wiesbaden 1959, daraus namentlich:
    • Mecdut Mansuroğlu: Das Karakhanidische, S. 87–112.
  • Liu Bin: Kalahanchao shiqi de wenxue: Jiu shiji zhi shisan shiji [Literatur in der Karachanidenzeit: 9.–13. Jahrhundert]. Xinjiang Volksverlag, Ürümqi 1995 (Weiwu'erzu gudian wenxue daxi, Bd. 2)
  • Benedek Péri: Karakhanid literature (in Teilansicht) / Vollansicht)
  • Robert Dankoff: Qarakhanid literature and the beginning of Turco-Islamic culture, in Hasan B. Paksoy (ed.): Central Asian monuments. Istanbul 1992, S. 73–80 – Text abrufbar unter vlib.iue.it
  • Mehmed Fuad Köprülü: Early mystics in Turkish literature. Abingdon 2006
  • Aysu Ata: Türkçe ilk Kur'an tercümesi (Rylands nüshası): Karahanlı Türkçesi: giriş, metin, notlar, dizin [Die erste türkische Übersetzung des Korans (Rylands-Manuskript): Karachanidisch: Einleitung, Text, Anmerkungen, Index]. Ankara: Türk Dil Kurumu, 2004 (Türk Dil Kurumu yayınları, 854) (Karachanidische Interlinearübersetzung des Korans aus dem 10./11. Jhd.)

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise und Fußnoten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Auch Qarachanidische Literatur, Karakhanidische Literatur usw.
  2. vgl. А. К. Боровков: Лексика среднеазиатского тефсира: XII—XIII вв. [Der Wortschatz der zentralasiatischen Tafsīre: 12.–13. Jahrhundert]. Moskau 1963
  3. vgl. den Artikel von Bedriye Atsiz zum Werk, in: KLL 18 (dtv), S. 7962–4.
  4. Mecdut Mansuroğlu: Das Karakhanidische in: Jean Deny et al. (Hrsg.): Philologiae Turcicae Fundamenta: Tomus Primus [Turksprachen]. Steiner, Wiesbaden 1959, S. 87–112, 88
  5. vgl. Michal Biran: Ilak-Khanis - iranicaonline.org („the Divān-e ḥekmat, attributed to the Sufi shaikh Aḥmad Yasawi, is almost certainly a later forgery“)
  6. vgl. O. F. Akimushkin, ed., Tarikh-i Kashgar. Anonimnaya tyurkskaya khronika vladeteleĭ Vostochnogo Turkestana po konets XVII veka (Tāriḵ-e Kāšḡar).
  7. vgl. Introduction to The Jawami u’l-hikayat wa Lawami’ur-riwayat of Sadidu’u-din Muhammad al-Awfi by Muhammad Nizamu’d-din. London: Luzac & Co, 1929
  8. A. Tilivaldi: Drevnetjurkskij knižnyj stich. [Alttürkische Bücherverse] Almaty: ASU, 2002. S. 15-16 (russisch); zitiert nach: Kydyr Torali Edilbaevich: Islamische Literatur in der Dascht-i-Kipchak-Steppe (10.–15. Jahrhundert). Astana, 2018, S. 38 (kasachisch) – abrufbar unter kazislam.kz.